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Rückblicke eines Inselbrüchigenvon Dr. Klaus Weinrich Inselbrüchig?Am 27. April 1984 habe ich eine Woche nach meinem achtzehnten Geburtstag zusammen mit meinen Eltern Hermannstadt in Siebenbürgen verlassen. Seitdem leben wir in der Bundesrepublik Deutschland. Wir waren die letzten unserer Familie, die diesen Schritt taten. Überhaupt gingen fast alle siebenbürgisch-deutschen Familien diesen Weg. Die allmähliche Auflösung der in sich verwurzelten und mich verwurzelnden siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft ließ mich zu einem Endzeitzeugen werden - keineswegs als Zuschauer, sondern vielmehr von der ins Geschehen hineinverwobenen Art, wie sie etwa dem Augenzeugentum von Schiffbrüchigen eigen ist. Doch ich bin kein Schiffbrüchiger: Meinem Erleben fehlt die unmittelbare Dramatik der elementaren Unentrinnbarkeit des Schiffbruchs, wenngleich ich ganz nach der Art letztlich von einer Insel geretteter Schiffbrüchiger neues Land betreten habe - ein Schritt, der auch meine unmittelbare Untergangs-Betroffenheit wenn nicht beendet, so doch zu Neuem und wie ich hoffen zu dürfen meinte Zukunftstragendem gewendet hat. Das Szenarium war jenem des Schiffbruchs eher entgegengesetzt: Nicht ein Schiff, sondern meine "Insel" war vom Untergang betroffen, das "Soziotop", in dessen sozialer Struktur an dem angestammten Ort ich aufgewachsen bin, und zu dessen Auflösung, Zerfall - Bruch? ich dazugehört habe: Inselbruch. Die Auflösung des Soziotops durch den Zerfall der Sozietät, der Gemeinschaft, und durch das Verlassen des topos, des Ortes - wechselseitige Bedingtheiten im Vollzug des Unausweichlichen. Im Herbst 1983 hatten auch wir schließlich die "großen Formulare einreichen" dürfen - so jedenfalls lautete die gängige, halb-amtliche Umschreibung dafür, dass ein Ausreiseanliegen nach langen Jahren endlich einigermaßen ernst genommen wurde. Bei der Entscheidungswillkür der staatlichen Obrigkeit kam dies praktisch der Ausreisegenehmigung selbst gleich. Die Monarchie war in Rumänien zwar 1944 gestürzt worden, doch die vielen kleinen Könige in ihren Amtsstuben wussten dem neuen Regime diese Proletarisierung des einst so menschenverachtend exklusiven Königtums wohl zu danken. GewordenheitenDie Wurzeln des Erlebten reichen tiefer, als sich aus eigener Anschauung erschließen lässt. Siebenbürgen war im Laufe der Jahrhunderte zum Spielball der jeweiligen Mächte Südosteuropas geworden. Eine Konsequenz war, dass die Siebenbürger Sachsen sich als Minderheit in wechselnden Staatsgebilden wiederfanden; die althergebrachte, verbriefte Eigenständigkeit und weitgehende Selbstbestimmung der sächsischen Gemeinschaft nahmen sich darin zunehmend als überholte und nicht mehr tragbare Ansprüche auf Sonderbehandlung aus. Das sächsische Selbstverständnis schien kaum geeignet, der Wucht dieser in gesamteuropäischen Maßstäben ablaufenden Entwicklungen standzuhalten: Man war durch jeden der immer wieder neu gezogenen Rahmen zu klein gemacht worden. Die nationalkonstitutiven Entwicklungen in den deutschen Ländern, die 1848 einen zukunftweisenden Höhepunkt in der Frankfurter Paulskirche fanden, trugen das im Vormärz neu entdeckte identitätsstiftende Verständnis des nationalen Deutschtums auch an die Siebenbürger Sachsen heran. Es fiel auf fruchtbaren Boden: In Verbindung mit der Besinnung auf die eigene Abkunft aus deutschen Landen und auf die vielfältig aufrechterhaltenen Verbindungen zum "Mutterland" verhieß es den Sachsen den Anschluss an Identitätskategorien jenen Zuschnitts, wie das neu werdende Europa ihn zu erfordern schien. Das sich von nun an festigende Bewusstsein einer deutsch-siebenbürgischen Identität begann, das tradierte sächsische Selbstverständnis zu ergänzen. Damit war die Grundlage für die kopernikanische Wende der Siebenbürger Sachsen gelegt: Die Realität des Minderheitsdaseins einerseits und die Konstitution des deutschen Nationalstaats außerhalb der eigenen Staatszugehörigkeit andererseits rückten die deutsch-siebenbürgische Gemeinschaft aus dem Zentrum, das sie sich in ihrem Selbstverständnis als sächsische Gemeinschaft so lange selbst gewesen war, an den Rand des deutschen Kulturkreises. Das Siebenbürgisch-Sächsische war nicht mehr das Zentralgestirn des Daseinsverständnisses der Siebenbürger Sachsen; die neu entdeckte Identität des Deutsch-Siebenbürgischen ließ die sächsische Gemeinschaft schließlich zu einem Planeten des "verstaatlichten" Deutschtums werden, wie es 1871 von Bismarck konstituiert worden war. Die in meiner Jugend umgangssprachlich noch gebräuchliche, wenn auch bereits etwas antiquiert wirkende siebenbürgische Ausdrucksweise, die Deutschland "oben" und Siebenbürgen "unten" lokalisierte, widerspiegelt möglicherweise die empfundene Hierarchie, in die das Deutsch-Siebenbürgische sich nach und nach selbst einordnete. Die Sachsen stellten die Loyalität den Staaten gegenüber, denen Siebenbürgen jeweils zufiel, nicht grundsätzlich in Frage. Sie wurde jedoch in den einander ablösenden ungarischen und rumänischen Staaten häufig schwer geprüft; die Reaktionen der Siebenbürger Sachsen reichten letztlich bis hin zur Aufkündigung der Loyalität einem Staat gegenüber, der seine Teilnahme an einer der verhängnisvollsten ideologischen Verirrungen der Menschheitsgeschichte in einer Weise gestaltete, die keinen dauerhaften Fortbestand unserer Gemeinschaft ohne die Aufgabe ihrer Identität und Kultur erwarten ließ. Nachdem "Deutschland" das deutsch-siebenbürgische Identitätsverständnis maßgeblich zu bestimmen begonnen hatte, rückte es schließlich als einziger Garant für dessen Fortbestand ins Bewusstsein. Die Aufnahmebereitschaft Deutschlands wie auch seine nach 1945 unter westlichem Vorzeichen unerwartet günstig verlaufende Entwicklung haben das ihre zu dem Exodus der Siebenbürger Sachsen beigetragen. Die Schwelle der Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung war jedenfalls bereits vor Dezember 1989 überschritten. Was dann ab 1990 noch folgte, war nur noch die quantitative Vollendung des qualitativ längst Besiegelten. WidersprüchlichkeitenGerade in jenen Jahren der Auflösung habe ich die beispiellose Kontinuität unserer Gemeinschaft erlebt. Ich besuchte die gleichen Schulen, die schon meine Eltern besucht hatten, und sogar der eine oder andere ihrer Lehrer waltete noch seines Amtes. Ich wurde in derselben Kirche wie meine Eltern und einige meiner Groß- und Urgroßeltern konfirmiert, wir machten seit Generationen die gleichen Ausflüge und manchmal stellte sich zu meinem maßlosen Erstaunen sogar heraus, dass mein Vater, den ich darin offensichtlich unterschätzt hatte, zu seiner Zeit mit seinen Freunden die gleichen Bubenstücke vollbracht hat wie ich mit meinen Freunden, dazu auch noch am gleichen Ort. So viel Kontinuität grenzt an Stagnation, aber war es nicht gerade auch eine ausgeprägte Beständigkeit, die das jahrhundertelange Fortdauern unseres Gemeinwesens überhaupt erst möglich gemacht hatte? Teil dieser Beständigkeit war eine kaum zu überbietende, geradezu kantische Bodenständigkeit: Geburts-, Lebens- und Sterbeort waren häufig identisch, jeder Aufenthalt an einem anderen Ort, wie ihn etwa Studien- oder erste Berufsjahre mit sich bringen konnten, schien unter dem Zeichen der angestrebten Rückkehr zu stehen, bis auf eine Ausnahme: "wegfahren", meistens ohne die sowieso überflüssige Nennung des Zieles - Deutschland - ausgesprochen, eine sprachliche Sparsamkeit, die die Endgültigkeit dieses einen Weges unbewusst hervorhob. Die Sprache reflektiert in subtiler Weise Entwicklungen der sie tragenden Gemeinschaft. Die Redundanz, die hier bei Angabe des Zieles empfunden worden wäre, lässt die inmitten althergebrachter Beständigkeit bereits fest eingelebte Normalität des Inselbruchs erkennen. Selbst das "auf Besuch fahren" - in Siebenbürgen sagte man "auf Besuch" - veranlasste niemanden zu der Frage "Wohin?" - die Antwort "nach Deutschland" verstand sich von selbst, ebenso wie die damit verbundene Gelegenheit zum Verzicht auf eine Rückkehr. Angehörige älterer Generationen bedienten sich in diesen Zusammenhängen noch zumindest einer verkürzten Zielangabe: Sie sprachen von "hinauf" oder "nach oben" fahren, gelegentlich wurde sogar ganz präzise wenn auch anachronistisch "ins Reich" gefahren. In meinen jungen, an ein einfaches "weg" gewöhnten Ohren klangen diese, wie mir scheinen musste, altertümlichen Ausdrücke immer befremdlich, aber ich konnte natürlich nicht ahnen, dass sich hinter der veränderten Ausdrucksweise weit mehr verbarg als nur eine generationsbedingte Wandlung des Alltagswortschatzes. Doch wenn auch die Tragweite von Begriffen wie "wegfahren" gewissermaßen von innen heraus für mich nicht zu erkennen war, wie steht es mit der bezeichneten Sache selbst? Wie konnte ich ausgerechnet dieses Wegfahren im Inneren einer von so viel Beständigkeit getragenen Gemeinschaft als dazugehörige Normalität erleben, ohne die hierin liegende offenkundige Unvereinbarkeit zu sehen? Vielleicht störte das Wegfahren ja gerade dadurch mein Gefühl der Beständigkeit unserer Gemeinschaft nicht, dass es in immer größerer, letztlich mehrheitlicher Anzahl vollzogen oder doch jedenfalls angestrebt wurde. Es war für mich zudem immer schon so gewesen, dass in der Schule von Zeit zu Zeit ein Platz leer blieb, in der Straße von Zeit zu Zeit ein Haus den Besitzer wechselte: Inseldämmerung, immer dagewesene. Meine in der Zeit eben dieser Inseldämmerung herangebildete Begriffswelt ließ mich dieses Wegfahren als Eigenheit unserer Gemeinschaft erleben. Weil fast alle diesen Weg gingen, bestand die Gemeinschaft für mich im Vollzug ihres Exodus fort. Das Zurückgelassene geriet dabei umso leichter aus dem Blick, als es schlicht von Tag zu Tag immer weniger geworden war: Eigendynamik einer Auflösung, die sich als solche nicht ohne weiteres zu erkennen gab. Ein eigentliches Bewusstsein des Geschehenen fehlt denn auch gerade bei dessen Zeugen-Akteuren, die nur zu häufig eine Verarbeitung des Erlebten im Sinne eines etwas größeren Umzugs erkennen lassen. Es ist dies freilich ein Zeichen, wie es für eine gelungene Integration in Deutschland kaum besser sein könnte, doch will diese Kontinuität des Bewusstseins des Einzelnen nicht so recht zum Bruch der Kontinuität der Gemeinschaft passen. UnsichtbarkeitenDer von mir miterlebte und mitgetragene Inselbruch schaukelt im Kielwasser der neueren europäischen Geschichte. Aber was habe ich denn nun eigentlich erlebt? "Die Auflösung einer über 800-jährigen deutschen Kultur in Osteuropa", derartige bereits die abschließende Bewertung wiedergebenden und das individuelle Erleben in einem hypothetischen Syntheseerlebnis transzendierenden Antworten mögen zutreffend sein, doch finde ich mich in ihnen nicht wieder. Zweifelsohne habe ich die Auflösung miterlebt - aber habe ich sie überhaupt als Auflüsung erlebt? Was ist mit den weitaus näher erlebten Brüchen im Privaten und wie strahlten das Bild wie auch die dann erfahrene Realität des Neulands auf all dieses Erleben aus? Solche Fragen führen nahe an eine sich im Einzelnen verlierende Subjektivierung heran, aber wo sollte man die Bedeutung seines Zeitzeugentums überhaupt suchen, wenn nicht im Spannungsfeld von Persönlichem und Allgemeinem, Erlebtem und Geschehenem? Gerade die früh-verwurzelte Vertrautheit des Erlebten scheint den Blick auf dessen Besonderheiten zu verstellen. Vielleicht ist es auch die für Inselbrüchige keineswegs selbstverständliche Begünstigung durch eine Schicksalszurückhaltung, die mir als Preis für das bei allen vorübergehenden Verwerfungen gewährte Wohlwollen den Zugang zur Bewusstheit des Eigentümlichen meines Zeitzeugentums erschwert. Ein günstiger Tausch, dessen Konsequenzen denn auch kein dem Status des "Inselbrüchigen" so recht entsprechen wollendes Daseinsverständnis aufkommen lassen: Ich habe mich niemals so gefühlt. Ich sitze an einem Fensterplatz, der Bahnsteig unten ist schon Vergangenheit. "Türen schließen selbsttätig." Gäbe es die Ansage nicht, hätte ich davon nichts bemerkt. © Dr. Klaus Weinrich 2000 |